GIP News • 06.09.2021

Corona und die Folgen: Menschen mit Behinderungen - Verlierer der Corona-Pandemie

Menschen mit Behinderungen in der Corona-Pandemie: Rückschritte bei Teilhabe und Inklusion

Groß angelegte Studie zu den Folgen der Corona-Maßnahmen

Ein Hauptziel der weitgehenden Restriktionen in der Corona-Pandemie war es, besonders gefährdete Menschen zu schützen. Dazu gehörten auch Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Doch welche Auswirkungen hatten die weitgehenden Corona-Maßnahmen auf diese Menschen? Wie haben sich Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der SARS-CoV-2-Pandemie verändert? Wie können die Folgen der Pandemie für Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen sowie Pflegebedarf bewältigt werden?

 

Diesen Fragen ist die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) in Abstimmung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. nachgegangen. Sie wirft damit ein Schlaglicht auf einen Bereich, der in der öffentlichen Diskussion und Berichterstattung über Corona bisher kaum oder gar keine Beachtung findet. Ein Grund mehr, den jetzt vorgelegten Abschlussbericht und auch andere Stimmen von Betroffenen zu ihren Erfahrungen in der Corona-Krise ausführlicher vorzustellen.

Der Konsultationsprozess: Betroffene und Experten mit ins Boot holen

Nehmen wir jedoch erst einmal die umfangreiche Studie der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation in den Fokus. Mittels zahlreicher Experten-Stellungnahmen sowie einer breit angelegten Online-Befragung mit mehreren tausend betroffenen Teilnehmern hat die DVfR untersucht, welche Folgen die Pandemie für Menschen mit Behinderungen hatte und wie diese Herausforderungen bewältigt werden können.

 

 

Der Abschlussbericht: Ein Warnzeichen für die bisherige Corona-Politik

Der Abschlussbericht lässt aufhorchen, denn die Corona-Pandemie habe, so ein zentrales Ergebnis, deutliche Rückschritte bei Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten zur Folge. Sie seien durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie besonders betroffen gewesen.

 

Allerdings wurde auch deutlich, dass nicht alle Probleme von Menschen mit Behinderungen tatsächlich auf die Corona-Krise zurückzuführen sind. Teilweise wurden durch die Pandemie Schwachstellen in den bestehenden Regelungen und Gegebenheiten sichtbar, die es bereits vorher gab und die durch Corona nur noch einmal verstärkt wurden. Unabhängig davon hatten die restriktiven Corona-Maßnahmen neben dem Schutz vor einer Corona-Erkrankung auch negative Effekte auf bestehende Erkrankungen der Betroffenen. Das konnte eine Verschlechterung vorbestehender Gesundheitsprobleme sein oder das Auftreten neuer Gesundheitsprobleme durch die pandemiebedingten Belastungen wie z. B. Depressionen oder psychische Störungen.

 

Große Probleme gerade zu Beginn der Corona-Pandemie

Gerade zu Beginn der Pandemie fühlten sich viele Menschen mit Behinderungen und ihre Familien mit ihren besonderen Problemen von der Politik allein gelassen. Besonders schwer wogen laut DVfR-Bericht folgende Dinge:

 

  • Notwendige Therapien und Förderungen, Assistenz im Alltag, in Schule und Beruf oder auch Beförderungsdienste entfielen einfach.
  • Medizinische und berufliche Rehabilitation wurden stark eingeschränkt.
  • Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen wurden geschlossen.
  • Parasport fand nicht statt. Zahlreiche Mitglieder verließen ihre Sportvereine.
  • Digitaler Unterricht und andere Ersatzangebote waren für Menschen mit Behinderungen oft entweder nicht verfügbar oder aber nicht hinreichend nutzbar. Viele Betroffene beklagten zudem die Qualität und Leistungsfähigkeit des Internetzugangs sowie die häufig mangelhafte Funktionsfähigkeit von Online-Plattformen und -Diensten. Stichwort: Barrierefreiheit.
  • Betroffene und ihre Familien litten unter psychosozialen Belastungen, die sie kaum allein bewältigen konnten.
  • Betroffene in stationären Einrichtungen ertrugen Einsamkeit, Isolation, Besuchsverbote und stark eingeschränkte Kontakte zu Angehörigen. „Ich habe Sehnsucht“, war ein typischer Kommentar.

 

Flankiert und verstärkt wurden diese Probleme durch eine zunehmende Bürokratie bei der Förderung und Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Ein Trend, der sich nach Ansicht von verschiedenen Wissenschaftlern und Verbänden in der Corona-Pandemie noch verstärkte und das ohnehin schon harte Leben der Betroffenen in der Pandemie weiter erschwerte.

 

Menschen mit Behinderungen litten besonders stark unter Pandemie

Die vielfältigen Corona-Einschränkungen hatte starke Auswirkungen auf die Betroffenen. So heißt es im Bericht des DVfR: „Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder Pflegebedarf und ihre Familien, insbesondere in Kombination mit prekären Lebenslagen, haben unter den Auswirkungen der Pandemie noch stärker gelitten als andere Menschen.“

 

Das bestätigte auch Sigrid Graumann, Ethik-Professorin an Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, gegenüber jetzt.de: „Ein selbstbestimmtes Leben bei voller und gleichberechtigter Teilhabe war im vergangenen Jahr für Menschen mit Behinderung stark eingeschränkt, Fortschritte der UN-Behindertenrechtskonvention wurden so zunichtegemacht.“

 

Nicht wenige Menschen mit Behinderungen empfanden vor allem die pauschale Einordnung als Risikogruppe und die damit verbundenen weitgehenden Restriktionen sowie den Ausschluss vom öffentlichen Leben als weitgehende Entmächtigung und Diskriminierung sowie eben als Verlust der Selbstbestimmung.

 

Allerdings beurteilten nicht alle Betroffenen die verordneten Corona-Maßnahmen gleich, manche fanden sie angemessen, andere nicht. Eine Rolle spielten dabei auch Vorerfahrungen in der Biografie mit Ausgrenzungen in anderen Situationen sowie individuelle Möglichkeiten, die Restriktionen zu kompensieren. Sei es durch digitale Kontakte, das Auftun von Ersatzangeboten oder individuelle Resilienz.

 

Corona-Eingriffe in alle Bereiche des Lebens

Die Corona-Restriktionen griffen in eigentlich alle Bereiche des Lebens von Menschen mit Behinderungen ein. Mit weitgehenden Folgen:

 

  • So hatten fehlende Gesundheits-, Teilhabe- und Rehabilitationsmaßnahmen in vielen Fällen gravierende Auswirkungen sowohl auf die Gesundheit als auch auf die Teilhabe und den Alltag der Betroffenen. Zumal Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen oft auch nicht die Möglichkeit hatten, die fehlenden Maßnahmen und Angebote zu kompensieren.
  • Auch die Teilhabe am Arbeitsleben sowie der Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Praktika waren für Menschen mit Behinderungen erheblich eingeschränkt. So traf die Corona-Krise den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen besonders hart. Da viele der Jobs für Schwerbehinderte z. B. als Hilfskräfte, in der Reinigung oder in Kantinen durch Corona-Schließungen wegfielen oder aus betrieblichen Gründen gekündigt wurden. Teilweise konnten Betroffene nicht mehr von ihren eigenen Einkünften leben und gerieten in finanzielle Notlage oder waren auf staatliche Transferleistungen angewiesen. So waren nach Berichten des Bayerischen Rundfunks (BR) allein in Bayern im Juli 2021 fast 25.000 Menschen mit Behinderungen arbeitslos.
  • Das Gleiche gilt für Bildungs- und Erziehungsangebote. Deren Fehlen führte zu weiteren Entwicklungsbeeinträchtigungen bei betroffenen Kindern und Jugendlichen.
  • Selbst in den privaten Bereich hinein hatten die Corona-Einschränkungen massive Auswirkungen. Das betraf zwischenmenschliche Beziehungen genauso, wie private Kontakte. Und das laut DVfR-Abschlussbericht selbst in existentiell bedrohlichen Lebenslagen, in denen durch Corona-Kontaktbeschränkungen kein Kontakt zu den Angehörigen oder zum primären sozialen Netzwerk möglich war. Was für die Betroffenen erhebliche psychosoziale Auswirkungen hatte.
  • Viele Betroffene fühlten durch die Begrenzungen des Bewegungsradius in ihren Entfaltungsmöglichkeiten, ihrer Freizeit- und Lebensgestaltung eingeschränkt. Eine häufiger geäußerte Aussage war daher: „Dass ich nicht raus durfte, war das Schwerste“.

 

Lösungsversuche ohne genügend Reichweite

Trotz der weitgehenden Einschränkungen gab es immer wieder Versuche, die schwierige Situation für die Betroffenen zu entschärfen. So führt der DVfR-Abschlussbericht an, dass es zahlreiche Aktivitäten und Problemlösungsversuche von staatlichen Institutionen, Leistungserbringern, der Selbstverwaltung sowie von den betroffenen Personen selbst und ihren Angehörigen gab. Allein, etliche Menschen mit Behinderungen konnten durch diese Aktivitäten nicht erreicht und ihre Probleme nicht wirklich gelöst werden. So dass sie mit den großen Belastungen in der Corona-Pandemie letztendlich doch ohne äußere Hilfe fertig werden mussten. Im Bericht heißt es dazu: „Häufig blieb die Sicherung der individuellen Teilhabe den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern selbst und ihren Familien überlassen. Zugleich ließen insbesondere zu Beginn der Pandemie Hygiene-Vorschriften, ungeklärte Finanzierung von Mehraufwand und Minderbelegung etc. den Einrichtungen und Diensten sowie den Betroffenen oft wenig eigenen Spielraum.“ Kritisiert wurde daher von vielen Menschen mit Behinderungen auch das Fehlen verständlicher und niedrigschwelliger Informationen zur Pandemie, den getroffenen Schutzmaßnahmen und entsprechenden Beratungsmöglichkeiten.  

 

Der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen wies gegenüber Deutschlandfunk noch auf eine weitere Schwachstelle beim Corona-Schutz von Menschen mit Behinderungen hin: „Was viele Menschen mit Behinderungen irritiert, ist, dass ständig die Politik davon ausgeht, dass Menschen, die behindert sind, eine chronische Erkrankung haben, in Einrichtungen leben, in Behindertenheimen, in Pflegeheimen. Dabei lebt ein Großteil von ihnen zu Hause und diese Gruppe befindet sich seit März in Selbstisolation und wird die ganze Zeit vergessen, wenn es um passiven oder aktiven Schutz geht.“

 

Wichtige Bereiche der Gesellschaft „pandemiefest“ machen

Um die betroffenen Menschen im weiteren Pandemieverlauf und auch in zukünftigen Pandemien nicht weiter allein zu lassen, geben die Experten im DVfR-Abschlussbericht ein breites Spektrum an Handlungsempfehlungen an Politik, Träger sowie Reha- und Teilhabe-Einrichtungen. Wir möchten an dieser Stelle nur einige zentrale Empfehlungen herausgreifen.

 

In diesem Kontext weisen sie besonders darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen auch unter Pandemie-Bedingungen ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung hätten. Denn: „Inklusion kann nur gelingen, wenn Politik, Entscheidungsträger und die versorgenden Dienste und Einrichtungen die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und deren besondere Lebenslagen mitdenken.“ Und weiter heißt es: „Reha-Leistungen, Assistenz, Beförderung, barrierefreie und niedrigschwellige Beratungsangebote und allen voran zwischenmenschliche Beziehungen müssen trotz aller Maßnahmen zum Gesundheitsschutz erhalten bleiben.“

 

Wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Gesundheitswesen, Schule oder Arbeitswelt sollten, so die Empfehlung, zukünftig „pandemiefest“ umgesetzt werden. Dabei sollte in Zukunft vor allem auf die Verhältnismäßigkeit von restriktiven Maßnahmen geachtet werden, wobei die Folgen von Beschränkungen der Teilhabe berücksichtigt werden sollten.

 

Mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen und eine Einwilligung zu den auferlegten Beschränkungen sei es zudem wichtig, ausreichende und verständliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig empfehlen die Experten, Betroffene bei der Erarbeitung von Schutzkonzepten zu beteiligen.

 

Gerade im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen oder in existenziellen Notlagen sollten für die Aufrechterhaltung von Kontakten alle Register gezogen werden. Der DVfR-Abschlussbericht gibt dazu eine Reihe von speziellen Handlungsempfehlungen:

 

  • So sollten alle Chancen ergriffen werden, um Betroffenen reale Begegnungen möglich zu machen. Das könnten auch kreative Lösungen sein. Wichtige Voraussetzungen sind klare Verantwortlichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen.
  • Als Alternative zu Präsenzgruppen sollte digitale Gruppenbildung unterstützt werden. Das erfordert die nötige Technik, Kompetenz im Umgang mit digitalen Angeboten sowie bei Bedarf Assistenz für die Betroffenen.
  • Auch für die private Kommunikation in Distanz, z. B. mit Familie oder Freunden sollten die technische Infrastruktur und bei Bedarf auch eine Assistenz zur Verfügung stehen.  

 

Als weitere Schwerpunkte und Herausforderungen speziell mit Blick auf die Corona-Folgen sehen die von der DVfR zu Rate gezogenen Experten:

 

  • die Rehabilitation von Long-Covid Patienten
  • die Förderung von Kindern und Jugendlichen, die durch die Pandemie in ihrer Entwicklung sowie ihrem Lernen eingeschränkt waren
  • die breite Unterstützung bei der Bearbeitung von psychischen Folgen der Corona-Pandemie.

 

Positive Folgen für die Betroffenen

Trotz der weitgehenden Restriktionen konnten Menschen mit Behinderungen auch positive Erkenntnisse aus der Pandemie-Zeit für ihr eigenes Leben ziehen. So führte die Isolation bei einigen Betroffenen dazu, dass sie entspannter waren und weniger von Unruhezuständen oder Stress geplagt wurden.

 

Laura Weskamp, die an einer seltenen Muskelerkrankung leidet, berichtete gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Als Mensch mit einer chronischen Erkrankung und Behinderung stand man im Alltag vor der Pandemie oft unter Druck, alles zu schaffen, überall dabei zu sein. Ich musste mir oft Ausreden einfallen lassen, warum ich z. B. nach dem Job nicht noch mit in eine Bar komme. Dieser Druck ist weggefallen.“ Auch andere Betroffene kamen gut mit den reduzierten Anforderungen während der Corona-Pandemie klar, da sie einfach zu Hause bleiben und länger schlafen konnten.

 

Positive Möglichkeiten für die eigene Teilhabe und Inklusion sahen Betroffene auch in der verstärkten Nutzung der digitalen Kommunikation. Sowohl mit Blick auf den Arbeitsmarkt, Stichwort Homeoffice, als auch mit Blick auf Therapien, wobei gerade Menschen mit Mobilitätseinschränkungen wesentlich von Therapieangeboten z. B. per Videochat profitierten.

 

Fazit

Die Corona-Pandemie belastete gerade Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder Pflegebedarf besonders stark. Vorher erreichte Erfolge im Bereich Teilhabe und Inklusion wurden durch Corona teilweise zunichtegemacht. Gleichzeitig schärfte die Pandemiesituation aber auch den Blick dafür, wie die Teilhabe der Betroffenen in Zukunft weiter verbessert werden kann – mit Pandemie und auch ohne.

 

Über die Untersuchung der DVfR:

Im Rahmen eines umfangreichen Konsultationsprozesses wurden 3.684 Betroffene, 1.124 Angehörige, 1.325 Dienste und Einrichtungen, 244 Leistungsträger sowie 177 Akteure der Zivilgesellschaft befragt. Hinzu kamen Diskussionen in Expertengruppen, um Probleme und Defizite in der Pandemie zu beschreiben, Erfahrungen auszuwerten und Optionen für zukünftiges Handeln zu entwickeln. Die Ergebnisse dieser Konsultationen liegen jetzt in einem umfangreichen Abschlussbericht „Teilhabe und Inklusion in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie – Auswirkungen und Herausforderungen“ vor.

 

Ihre Meinung

Sie sind selbst Betroffene bzw. Betroffener oder Angehörige bzw. Angehöriger? Wie waren Ihre persönlichen Erfahrungen in der Corona-Pandemie? Wo haben Sie sich am stärksten eingeschränkt gefühlt? Wo haben Sie besonders gelitten? Welche positiven Erkenntnisse konnten Sie vielleicht aus dieser harten Situation für sich gewinnen? Wir freuen uns auf Ihre Meinung gern an: marketing(at)gip-intensivpflege.de

Weitere News

Mehr aktuelle Nachrichten, Berichte und Informationen zu Veranstaltungen der GIP und GIP Bayern.

GIP-haeusliche-Intensivpflege-GIP-News-Teaser
GIP News
GIP-haeusliche-Intensivpflege-Job-News-Teaser
Job News
GIP-haeusliche-Intensivpflege-Patientenberichte-Teaser
Patientenberichte
GIP-haeusliche-Intensivpflege-Termine-Teaser
GIP Termine