GIP News • 18.07.2022

Kritik an GKV-IPReG: Neue Studie zu Intensivversorgungen in der Häuslichkeit

Pflege-Thermometer 2022: Häusliche Intensivversorgungen in Deutschland

Beatmungsentwöhnung nur für wenige Patienten ein Thema

Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP) nimmt im aktuellen Pflege-Thermometer 2022 das Feld der häuslichen Intensivversorgung in den Fokus. Dazu wurden fast 700 Betroffene aber auch Pflegekräfte aus diesem Versorgungsbereich befragt. Nach Auskunft des DIP handelt es sich um die bislang "größte Befragung im Feld der häuslichen Intensivversorgung". Wir haben uns das Pflege-Thermometer angesehen und stellen Ihnen wichtige Ergebnisse vor.

Rund zwei Drittel beatmet

Menschen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf benötigen eine dauerhafte intensivpflegerische Versorgung, um ihre Lebenserhaltung zu sichern. Mehr als die Hälfte der Befragten benötigt eine 24 Stunden-Versorgung. Nur bei 23,4 Prozent lag die Versorgung bei 12 Stunden oder weniger.

Rund zwei Drittel der Betroffenen wird beatmet.

  • 41,5 Prozent wird invasiv beatmet.
  • 22,4 Prozent nicht-invasiv.
  • 3,7 Prozent mittels Zwerchfellstimulation.

 

Weaning nur für wenige Patienten relevant

Für 80,6 Prozent der beatmeten Patienten ist die Beatmung lebensnotwendig. Eine Entwöhnung von der Beatmung (Weaning) ist für diese Patienten ausgeschlossen.

Eine Reduzierung der Beatmungszeit oder gar Entwöhnung von der Beatmung würde für rund 66 Prozent der Betroffenen die Lebensqualität "massiv" einschränken – unter anderem durch eine Verschlechterung der Schlafqualität, Atemnot, Kopfschmerzen oder auch durch weniger Möglichkeiten, die Häuslichkeit zu verlassen.

44,8 Prozent sehen ohne Beatmung Risiken für die aktive Mitwirkung an der Versorgung.

Nur für 12,1 Prozent der befragten Beatmungspatienten ist die Beatmungsentwöhnung ein zentrales Ziel der Therapien. Die Autoren des Pflege-Thermometers verweisen in diesem Kontext kritisch auf IPREG: "Dieser Befund ist vor dem Hintergrund der prioritär formulierten Zielsetzung des IPREG (Entwöhnungspotentiale identifizieren und Dekanülierung initiieren) und der Überprüfungslogik im Rahmen der Feststellungen bedeutsam, der in der Diskussion stärker berücksichtigt werden muss."

 

Den Intensivpatienten gibt es nicht

Die Gruppe der Menschen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf ist sehr heterogen. Das betrifft:

  • die Krankheitsbilder
  • Einschränkungen
  • Unterstützungsbedarfe
  • Altersgruppen
  • gesellschaftliche Schichten
  • Wohn- und Versorgungssituationen.

 

Selbstbestimmt leben

Viele Betroffene leben überwiegend selbstbestimmt und autonom oder unterstützt durch Angehörige. Sie sind nicht hilflos oder ausschließlich auf andere angewiesen.

Für 93,6 Prozent der befragten Patienten ist Partizipation wichtig oder sogar sehr wichtig.

Fast 95 Prozent schätzen eine Mitbestimmung bei Entscheidungen zur Versorgung als wichtig oder sehr wichtig ein. Dabei spielt die Finanzierung eine wichtige Rolle. Einen hohen Grad an Partizipation hatten die Betroffenen mit den höchsten angegebenen Eigenanteilen an der Finanzierung. Auch das Setting in der Häuslichkeit ist von Bedeutung. So biete die 1:1-Versorgung "breitere Spielräume für Individualität und Bedürfnisorientierung".

Neun von zehn der befragten Patienten leben in Privathaushalten – 19,6 Prozent allein, 72,6 Prozent gemeinsam mit Angehörigen. 90 Prozent sind mit der aktuellen Wohnform zufrieden und wünschen keine Änderungen.

 

Teilhabe und regelmäßige soziale Kontakte

Die Mehrheit der Betroffenen ist integriert und nimmt aktiv am Leben in größeren sozialen Netzwerken teil.
Über 90 Prozent der Patienten haben regelmäßig Kontakt zu Verwandten wie Eltern, Kinder oder Geschwister. Über 50 Prozent haben Kontakt zu Freunden.

20,4 Prozent der Menschen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf leben in einer Ehe, Beziehung oder Partnerschaft.
Etwa 80 Prozent haben mindestens einmal wöchentlich Kontakt zu haushaltsfremden Freunden oder Angehörigen. Der überwiegende Teil der Kontakte findet allerdings in der eigenen Wohnung oder Intensivversorgungseinrichtung statt.

40 Prozent der Menschen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf verlassen täglich ihre Wohnform – 33,3 Prozent mehrmals wöchentlich. 19,3 Prozent sind sogar international unterwegs. Zu den Tätigkeiten gehören:

  • der Besuch von Bildungs- oder Ausbildungsprogrammen
  • Teilnahme an öffentlichen Kulturveranstaltungen
  • Treffen in sozialen Gruppen und Selbsthilfegruppen.

 

Allerdings:

  • Nur 52,5 Prozent der Betroffenen sind mit Art und Umfang der sozialen Kontakte zufrieden.
  • 32,8 Prozent wünschen sich Kontakt zu neuen Menschen.
  • Auch mit der Kontakthäufigkeit sowie den Möglichkeiten für persönliche Kontakte sind einige Betroffene nicht zufrieden.

 

Barrieren im Alltag

Menschen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf stoßen wie auch andere Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag häufig auf Barrieren, die ihre Mobilität einschränken. Vor allem der Personennah- und Personenfernverkehr wird von mehr als 50 Prozent der Betroffenen als nicht oder eher nicht barrierefrei erlebt.

 

Fachkräftemangel als Risiko

Bei der Sicherung der pflegerischen Versorgung sind die ambulanten Dienste und Einrichtungen von einem deutlichen Fachkräftemangel betroffen. 68 von 94 befragten Leitungskräften muss aktuell Versorgungsanfragen ablehnen, da nicht genügend Personal zur Abdeckung der Versorgung zur Verfügung steht. Eine Folge: Der Aktionsradius von Versorgungen hat sich mittlerweile auf bis zu 340 Kilometer erhöht.

Der Fachkräftemangel betrifft vor allem Pflegekräfte mit bereichsspezifischen Weiterbildungen (Pflegefachkräfte für außerklinische Beatmung/Pflegeexpert*innen für außerklinische Beatmung/Pflegekräfte mit Basisqualifizierung für außerklinische Intensivpflege).

Die Folgen:

  • mehr Aufwand bei der Personalgewinnung
  • Annahme von Bewerber*innen mit niedrigerem Qualifikationsniveau
  • bislang eher untergeordnet: Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland
  • mehr Überstunden und Krankmeldungen sowie längere Erkrankungsdauern beim Bestandspersonal.

 

Rettungsanker Angehörige

Die pflegerische Versorgungssicherheit werde laut Pflege-Thermometer insgesamt wesentlich durch die Familien selbst realisiert. Bei 49,2 Prozent der befragten Intensivpatienten sind Angehörige "in allen Teilbereichen der Versorgung aktiv".

Auch die Betroffenen nehmen dabei den Fachkräftemangel deutlich wahr:

  • 71,5 Prozent gaben an, dass es derzeit nicht möglich sei, in "einer angemessenen Zeit" einen geeigneten Pflegedienst für eine häusliche Intensivversorgung zu finden.
  • 79,5 Prozent planen einen Anbieterwechsel aufgrund von Lücken in der Versorgung.
  • Fast 50 Prozent hegen Zweifel an der Sicherheit der aktuellen Betreuung. Nur bei 38,9 Prozent der Betroffenen konnte die verordnete Stundenzahl der häuslichen Intensivversorgung zuverlässig abgedeckt werden.

 

Mit der Versorgungsqualität zufrieden

Unabhängig davon nehmen Patienten und Angehörige die Qualität der Versorgung als überwiegend positiv wahr. Das betrifft sowohl die problemlose Kommunikation als auch den freundlichen und respektvollen Umgang miteinander sowie zuverlässige Absprachen und das gewissenhafte Arbeiten der Pflegekräfte. Problematisch wird es in Notfällen: Hier sehen nur 79,9 Prozent ein adäquates Handeln für gegeben. 20 Prozent zweifeln an ihrer Sicherheit! Auf längere Sicht rechnen 46,1 Prozent der befragten Patienten mit einer Verschlechterung der Versorgungsqualität bis hin zu einer Nichtbewilligung der Finanzierung oder Versorgungsänderung in Richtung stationäre Pflege.

 

Pflegekräfte entscheiden sich bewusst für Intensivpflege

Pflegekräfte wählen sehr bewusst (91,7 Prozent) einen Job in der häuslichen Intensivversorgung. 67 Prozent der Pflegenden gaben als Grund für die Jobwahl an, dass sich die Arbeitszeitmodelle wie z. B. 12-Stunden-Dienste gut mit der individuellen Lebenssituation verbinden ließen. Die 1:1 Betreuung ermögliche es zudem, eine bessere Versorgung zu realisieren und in der Pflege das umzusetzen, was sich die Pflegekräfte vornehmen.

Attraktive Jobangebote in der häuslichen Intensivversorgung müssten nach Ansicht der Pflegekräfte folgendes bieten:

  • ein entfristetes Arbeitsverhältnis
  • einen verlässlichen Dienstplan
  • eine angemessene Entlohnung.

Die Entlohnung ist gleichzeitig der häufigste Wechselgrund. 47 Prozent der Pflegenden in der häuslichen Intensivversorgung sind derzeit mit der Vergütung unzufrieden; 36,6 Prozent mit der Personalführung.

 

Kritik am Begriff „außerklinische Intensivpflege“

Die Forscher kritisieren in ihrer Studie den auch in rechtlichen Verordnungen verwendeten Begriff der außerklinischen Intensivpflege. Bei der "häuslichen Intensivversorgung" handele es sich um eine "eigenständige und spezialisierte Hilfeform in dem Lebensraum der Häuslichkeit". Dazu zählen die Forscher auch Haus- und Wohngemeinschaften sowie stationäre Einrichtungen. Außerklinische Intensivpflege lasse hingegen vermuten, dass die Klinik der eigentliche Versorgungsraum der Intensivpflege sei.

Der Begriff außerklinisch sei nicht tragfähig und führe zu Missverständnissen. Denn: Eine häusliche Intensivversorgung sei breiter angelegt als eine Krankenhausbehandlung und umfasse auch "Leistungen zur Aufrechterhaltung und Ermöglichung der Teilhabe und individuellen Lebensgestaltung, Lebensbegleitung und/oder der Förderung von Wahrnehmungsmöglichkeiten".

Auch der "Partizipationsgrad bei der Entscheidungsfindung der Therapiesteuerung sowie die Einbindung der An- und Zugehörigen in alle relevanten Prozesse der Therapie und der Lebensgestaltung" sei höher.

Über die Studie

Im Rahmen der Studie „Pflege-Thermometer 2022“ wurden 299 Personen mit häuslichem Intensivversorgungsbedarf sowie ihre Familien befragt. Darüber hinaus 303 Pflegende in diesem Bereich und 94 Leitungen von ambulanten Diensten, Wohngemeinschaften sowie stationären Einrichtungen. Die Forscher sehen die Ergebnisse der Befragung als Querschnittsergebnisse, nicht jedoch als repräsentative Untersuchung, die eine Verallgemeinerung der Ergebnisse ermöglicht.

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