Den Ursachen von MS auf der Spur: Eine Antwort aus der Evolutionsgenetik
Forscher lösen Rätsel, warum gerade in Nordeuropa so viele Menschen an MS erkranken
Ein Blick zurück auf 5.000 Jahre Menschheitsgeschichte
Die schubweise verlaufende Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose kommt in Nordeuropa besonders häufig vor. So erkranken in MS-Hochrisikoländern wie Skandinavien, Deutschland oder Großbritannien zehnmal mehr Menschen an Multiple Sklerose als beispielsweise in Nordafrika oder in Russland. In Skandinavien kommen auf 100.000 Einwohner 303 Erkrankungsfälle. In Deutschland und England sind es immerhin noch 271. Warum ist das so? Evolutionsgenetiker haben jetzt eine verblüffende Antwort für die regionalen Unterschiede gefunden, die weit in die Geschichte der Menschheit zurückreicht.
Ein genetisches Erbe aus der Bronzezeit
Die Forscher fanden heraus, dass während der Bronzezeit Einwanderer aus dem Gebiet der sogenannten pontischen Steppe das genetische Erbe mit in den Norden Europas brachten. Die pontische Steppe erstreckte sich damals zwischen dem heutigen Ungarn und dem weiten Ural.
Genanalysen von Menschen aus den letzten 15.000 Jahren
Sie analysierten dafür das Erbgut von Menschen aus der Mittel- und Jungsteinzeit, die damals im nördlichen und westlichen Eurasien lebten. Sie konnten dabei auf die DNA von 1.600 "Urindividuen" aus den letzten 15.000 Jahren zurückgreifen.
Anschließend verglichen sie genetische Muster aus der Steinzeit mit denen von Menschen, die im Mittelalter im skandinavischen Dänemark lebten, sowie mit Briten aus der Jetztzeit. Das Ergebnis: Das hohe MS-Risiko in Nordeuropa steht mit einer Wanderungsbewegung vor gut 5000 Jahren in Verbindung.
Ein wenig Genetik
Für MS konnten bisher 233 Risikogene identifiziert werden. Hier spielt vor allem die sogenannte HLA-Region, das humane Leukozyten-Antigen-System, eine wichtige Rolle. In dieser Region sitzen 32 Gene, denen ein hohes Risiko für eine MS-Erkrankung zugeordnet wird. Träger dieser Risikogene haben ein höheres Erkrankungsrisiko.
Wie die Risikogene in den Norden kamen
Die Forscher konnten zeigen, dass diese speziellen Risikogene ein Erbe der Einwanderer aus der pontischen Steppe sind. Bei diesen Einwanderern, den Yamnaya, handelte es sich um Hirten, die auf einer rund tausendjährigen Wanderschaft über das Donautal, Deutschland und die Ostseeküste bis nach Skandinavien zogen. Dabei vermischten sie sich mit den dort lebenden Siedlern und verdrängten in Nordeuropa sogar weitgehend die ursprüngliche Bevölkerung. Nach Ansicht der Forscher zeigt das MS-Risiko der heutigen Europäer, wie viel Yamnaya-Erbgut in der jeweiligen Bevölkerung vorhanden ist.
Alte Immunabwehr, neue Herausforderungen
Als Hirten hatten die Yamnaya intensiven Kontakt zu ihren Nutztieren und deren Infektionskrankheiten. Dadurch entwickelten sie eine leistungsfähigere Immunabwehr, die auf den Genen der HLA-Region basierte und ihnen vor 5.000 Jahren einen deutlichen Überlebensvorteil verschaffte. Heute machen die damals vorteilhaften Genvarianten die Träger dieser Gene offenbar anfälliger für Erkrankungen wie MS. Dabei spielen auch Umweltfaktoren und Lebensgewohnheiten eine wichtige Rolle, die sich in den letzten 5.000 Jahren völlig verändert haben. Denn: Gene sind nur zu rund einem Drittel für das Entstehen von Multiple Sklerose verantwortlich. Auch andere Faktoren wie die Lebensgewohnheiten oder z. B. Übergewicht können das MS-Risiko erhöhen.
Die gewonnenen Erkenntnisse zu den Risikogenen in der HLA-Region wollen die Forscher nutzen, um neue Therapieansätze für MS zu entwickeln.